Die Narrative

Durch dominante nationale Narrative werden innerhalb einer Gemeinschaft breit geteilte Selbstverständlichkeiten über die eigene Nation reproduziert und die Nation gegenüber «den Anderen» abgegrenzt. Auch über die Schweiz gibt es diese Narrative.

Die Schweiz ist ein Land mit Bergen, Kühen und Käse. Die Schweiz ist ein Land der Banken und des finanziellen Wohlstands. Die Schweiz lebt die internationale Solidarität mit ihrem humanitären Engagement. Die Schweiz ist eine erfolgreiche Demokratie, die trotz ihrer Diversität immer wieder einen Konsens finden will. Diese Klischees sind nicht zufällig. Sie gehören den wichtigsten Erzählungen, mit denen die Schweiz sich selbst beschreibt. Dominante nationale Narrative erzählen von den Ursprüngen, Errungenschaften und wahrgenommenen Eigenschaften einer nationalen Gemeinschaft.

Die wichtigsten Erkenntnisse

  • Rechte Parteien dominieren mit dem Narrativ «freiheitsliebende, wehrhafte Schweiz»
  • Narrative haben einen Abrenzungscharakter und sind identitätsstiftend
  • Die Konnotation der Begrifflichkeiten ist wichtig – es gibt Spannungsfelder um die Deutungshoheit innerhalb von Narrativen
In dieser Studie wurden auf der Basis von Di Giulio und Defila (2022) wurden sechs dominante nationale Narrative in der Schweiz identifiziert und genauer untersucht. Diese Narrative prägen, was Schweizer:innen über ihre Heimat und Herkunft denken und fühlen.
Politisches Erfolgsmodell

Das Narrativ «Politisches Erfolgsmodell» fokussiert auf die direktdemokratischen und föderalistischen Strukturen der Schweiz.

Wirtschaftlicher Wohlstand

Das Narrativ «Wirtschaftlicher Wohlstand» stellt die Schweiz als attraktiven und unabhängigen Wirtschaftsstandort ins Zentrum.

Willensnation

Das Narrativ «Willensnation» zelebriert die Vielfalt der Schweiz, sowie die Konkordanz und den Konsens.

Humanität und Solidarität

Im Fokus des Narratives «Humanität und Solidarität» stet die Deckung der Grundbedürfnisse der Menschen in der Schweiz und im Ausland.

Freiheitsliebende, wehrhafte Schweiz

Das Narrativ «Freiheitsliebende, wehrhafte Schweiz» befasst sich mit der Unabhängigkeit und Souveränität der Schweiz.

Alpenvolk

Das Narrativ «Alpen-Volk» betont die Wichtigkeit der Heimat, der Tradition und der Natur.

Narrative sind kollektive Vorstellungen, welche über Ideale, kollektive Identitäten, Werte und normative Handlungsprinzipien konstruiert und in die Gegenwart und Zukunft übertragen werden. Diese Narrative beeinflussen den gesellschaftlichen Wandel sowie das Bewahren von Traditionen. Dazu gehören Erzählungen über die Vorstellungen davon, was eine Nation ausmacht. Auch in der Schweiz sind solche Erzählungen über die Nation verbreitet.
Die Grafik zeigt die relative Bedeutung der Narrative im Zeitverlauf.
Die Analyse dieser Narrative hat spannende Ergebnisse ergeben. So hat sich eine eindrückliche Dominanz der rechten Parteien und insbesondere deren Narrativ-Nutzung der «freiheitsliebenden, wehrhaften Schweiz» gezeigt. Zudem konnte beim Narrativ «wirtschaftlicher Wohlstand» eine interessante Verwendungsdichotomie beobachtet werden durch die Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften/NGOs. Es scheint auch die Konnotation der Begrifflichkeiten von beträchtlicher Wichtigkeit zu sein. Bei den thematischen Zuordnungen der Narrative zu den Politikbereichen wurde erkenntlich, dass insbesondere bei aussenpolitischen Themen  dominante nationale Narrative eine höhere relative Bedeutung haben. Dies weisst darauf hin, dass diese Narrative zur Abgrenzung gegen aussen und eine identitätsstärkende Funktion haben.
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Die Studienresultate

Politisches Erfolgsmodell

Im Narrativ «Direkte Demokratie, Föderalismus und Neutralität sind das politische Erfolgsmodell der Schweiz» zeichnet das politische System und die Vermittlerinnenrolle die Schweiz aus.

Das Narrativ der Schweiz als «Politisches Erfolgsmodell» dreht sich primär um das direktdemokratische, föderalistisch-subsidiäre politische Modell der Schweiz als Grundlage des Erfolgs. Auch die aussenpolitische Rolle der Schweiz als neutrale Vermittlerin wird hervorgehoben.

Die wichtigsten Erkenntnisse

  • Das Narrativ «politisches Erfolgsmodell» wird am stärksten von den rechten Parteien und Grunsatzdokumenten verwendet
  • Rechte Parteien benutzen oft Begriffen wie «neutral», «Souverän», «Stimmbürgerinnen» und «Bürgerrechte»
  • Die Neutralitätsdebatte wurde in diesen Diskurs integriert

Die Studie hat gezeigt, dass das Narrativ ab den 1990er Jahren von rechten Parteien relativ zu anderen Akteur:innen mehr benutzt wird. Mindestens zwischen den Jahren 2000 und 2010 heben sie sich von den anderen Akteur:innen ab und halten ihre Bedeutungsdominanz bis heute.

Die Grafik zeigt die Relative Bedeutung des Narratives pro Akteur:in.

Auch in Grundsatzdokumenten kommt das Narrativ relativ zu anderen Akteur:innen oft vor, immerhin bis in die 1990er Jahren. Bis zum Jahr 2019 nimmt die Narrativnutzung durch die Grundsatzdokumente jedoch stetig ab.

Die Grafik zeigt die fünf bedeutendsten Schlagworte des Narratives pro Akteur:in.

Beim Wortschatz des Narratives sticht erneut die Dominanz der rechten Parteien bei gewissen Begrifflichkeiten hervor. Insbesondere von Worten mit Bezug auf die Neutralität machen die rechten Parteien in eindrücklichem Masse Gebrauch. Grundsätzlich kann aber gesagt werden, dass das Narrativ sich als institutionelles Gefüge mehrheitlich objektiv im Diskurs verwenden lässt.

Wirtschaftlicher Wohlstand

Im Narrativ «Unabhängigkeit, Souveränität und Stabilität sind Garanten des wirtschaftlichen Wohlstands der Schweiz» werden die Selbstversorgungmentalität, die Zuverlässigkeit, der Innovationsgeist und der Fleiss der Schweizer:innen betont.

Unabhängigkeit, Souveränität und Stabilität sind laut diesem Narrativ die Gründe für den wirtschaftlichen Wohlstand der Schweiz. Es sind keine stabilen Trends oder Dominanzen in der Nutzung dieses Narrativs ersichtlich. Lediglich bei den Zentrumsparteien hat das Narrativ eine konstant hoghe relative Bedeutung.

Die wichtigsten Erkenntnisse

  • Die Wirtschaftsverbände und die Gewerkschaften/NGOs füllen das Narrativ mit unterschiedlicher Konnotation
  • Es sind keine stabilen Tendenzen oder eindeutige Dominanzen ersichtlich
  • Das Narrativ hat lediglich bei den Zentrumsparteien relativ konstant hohe Relevanz

Bei der Analyse der wirtschaftsorientierten Wortverwendungen fällt vor allem auf, dass sich erwartungsgemäss zwei Gegenpole der entsprechenden Narrative bedienen: die Wirtschaftsverbände und die Gewerkschaften/NGOs. Es scheint sich um ein Spannungsfeld der Deutungshoheit oder der Auslegung des Narratives zu handeln.

Die Grafik zeigt die Relative Bedeutung des Narratives pro Akteur:in.

Bei den Wirtschaftsverbänden haben nach aussen gerichtete Wörter wie «Innovation», «wettbewerbsfähig» oder «Swissnessregelung» die höchste relative Bedeutung. Die Schweiz kann sich behaupten, ist attraktiv und einzigartig. Demgegenüber brauchen die Gewerkschaften innenpolitische Worte wie «Sozialpartner», «Deregulierung» oder «Gleicher Lohn» tendenziell am meisten. Bei allen Akteur:innen ausser Gewerkschaften/NGOs ist «Investition» das bedeutendste Wort.

Die Grafik zeigt die fünf bedeutendsten Schlagworte des Narratives pro Akteur:in.

Willensnation

Das Narrativ «Die Schweiz ist eine multikulturelle Willensnation» betont, dass die Schweizer:innen trotz Unterschiedlichkeit immer wieder zusammenfinden. Der Konsens und die Konkordanz zeichnen sich als schweizerische Spezialität aus.

Beim Narrativ «Willensnation» handelt es sich um eine Zelebrierung der kulturellen, sprachlichen und geographischen Vielfalt der Schweiz. Trotz dieser Unterschiede ist der innere Zusammenhalt gross und der Konsens und die Konkordanz werden als Schweizer Spezialität betont.

Die wichtigsten Erkenntnisse

  • Das Narrativ vermag sich nicht als dominant zu beweisen
  • Es wird seit den 2000er Jahren vor allem von rechten Parteien verwendet
  • «Gemeinschaft» und «Integration» sind dominante Begriffe in dem Narrativ

Das spiegelt sich auch in den Begriffen, die im Kontext des Narratives verwendet werden, wieder. Bei den Wortverwendungen lassen sich keine eindeutigen Monopole ausmachen. Fast alle Akteur:innen benutzen die Begriffe «Gemeinschaft» und «Integration». Auch «Vielfalt» ist vielgenannt.

Die Grafik zeigt die Relative Bedeutung des Narratives pro Akteur:in.

Bei der Benutzung des Narrativs durch politische Akteur:innen lässt sich jedoch ein spannender Trend feststellen. Während vor den 1980er Jahren linke Parteien das Narrativ dominiert haben, wird es seit den 2000er Jahren vor allem von rechten Parteien verwendet.

Die Grafik zeigt die fünf bedeutendsten Schlagworte des Narratives pro Akteur:in.

Die Verwendung in Grundsatzdokumenten hat sich im Vergleich zu anderen Akteur:innen unterdurchschnittlich entwickelt. Diese Dokumente neigen naturgemäss dazu, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu betonen. Es ist also interessant, dass sie den Willen, trotz Vielfalt zusammenzufinden, weniger hervorheben.

Humanität und Solidarität

Das Narrativ «Die Schweiz ist ein Land mit einer starken humanitären Tradition, in dem für alle gesorgt wird» behandelt Themen wie Wohlfahrtsstaat, Inklusion, Diplomatie, humanitäre Hilfe und Rechtsstaatlichkeit.

Im Fokus des Narratives «Humanität und Solidarität» geht es darum, dass für alle gesorgt wird und dass die Grundbedürfnisse der in der Schweiz lebenden Bevölkerung gesichert sind. Dieses humanitäre Denken zeigt sich auch im Ausland. Die Schweiz zeigt ihr Engagement bei Entwicklungszusammenarbeiten und ist stolz auf ihre humanitäre Tradition, die das Rote Kreuz leistet.

Die wichtigsten Erkenntnisse

  • Es wird von allen Akteur:innen häufig verwendet
  • Das Narrativ wird von den linken Parteien, Gewerkschaften / NGOs und Grundsatzdokumenten am häufigsten verwendet
  • Rechte Parteien brauchen in dem Narrativ häufiger als andere Akteur:innen die Begriffe «Entwicklungshilfe», «Herkunft» und «Scheininvalide», deuten das Narrativ also anders
Die Grafik zeigt die Relative Bedeutung des Narratives pro Akteur:in.

Das Narrativ hat eine relativ hohe Bedeutung und wird relativ konstant benutzt. Die Studie hat zudem herausgefunden, dass das Narrativ primär von linken Parteien, den Gewerkschaften / NGOs und den Grundsatzdokumenten oft verwendet wird.

Die Grafik zeigt die fünf bedeutendsten Schlagworte des Narratives pro Akteur:in.

Linke Parteien und die Gewerkschaften haben sich insgesamt als die intensiveren Benutzer:innen des Narrativs herausgestellt - jedoch dominieren rechte Parteien im intensiven Gebrauch der Worte «Entwicklungshilfe», «Herkunft» und «Scheininvalide». Dies deutet darauf hin, dass die Akteur:innen das Narrativ unterschiedlich besetzten.

Freiheitsliebende, wehrhafte Schweiz

Das Narrativ «Die Schweiz ist ein freiheitsliebendes, wehrhaftes Land, das Bedrohungen von innen und aussen erfährt» betont, dass die Schweiz als Klein- und Binnenstaat durch Wehrbereitschaft und Entschlossenheit ihre militärische, wirtschaftliche und kulturelle Unabhängigkeit erhalten hat.

In diesem Narrativ werden die Einzigartigkeit und Wichtigkeit der schweizerischen Tugenden und Werte vor allem im Kontrast zu «fremden Richtern», aber auch unschweizerischem Verhalten und Gedankengut betont. Dieses Narrativ und seine Prinzipien und Mythen, welche zum Teil bis zum Rütlischwur zurückdatieren, sind tief in der Schweizer Mentalität verankert.

Die wichtigsten Erkenntnisse

  • Das Narrativ wird am meisten von rechten Parteien und in Grundsatzdokumenten angewendet
  • Das Narrativ ist stark mit der Migrationsthematik verknüpft
  • Der Begriff «Freiheit» ist dominant

Die Studie hat herausgefunden, dass das Narrativ im Eigenvergleich proportional am meisten von rechten Parteien und in Grundsatzdokumenten angewendet wird. Es tritt also bei diesen Akteur:innen im Vergleich mit den anderen Narrativen am häufigsten auf.

Die Grafik zeigt die Relative Bedeutung des Narratives pro Akteur:in.

Die relative Bedeutung des Narratives hat ab den 1990er Jahren bei allen Akteur:innen ausser den rechten Parteien abgenommen und sich auf niedrigem Niveau stabilisiert. Die rechten Parteien hingegen haben in derselben Zeit einen markanten Anstieg in der relativen Bedeutung dieses Narratives zu verzeichnen.

Die Grafik zeigt die fünf bedeutendsten Schlagworte des Narratives pro Akteur:in.

Diese Diskrepanz weist auf eine Neubesetzung oder eine starke Neubewirtschaftung des Narrativs hin. Wenig überraschend ist der Begriff der «Freiheit» sehr dominant, wobei der freiheitliche Diskurs relativ stark in Richtung der Migrationsthematik gelenkt wird.

Alpenvolk

Das Narrativ zeichnet sich primär in der Nutzung der Alpen, sowie verschiedener Begriffe und Erzählungen, welche intuitiv in den Alpen oder in ihrer Nähe verortet werden, aus.

Im Narrativ «Die Schweizer:innen sind ein Alpen-Volk» wird die Wichtigkeit von Traditionen und Heimat, des Schweizer Volkes sowie das einheimisch-sein unterstützt mit Spezifika wie dem Réduit oder Heidi. Der Bezug zur Natur wird über die erholsame Wirkung der Schweizer Berglandschaft sowie deren Nutzung gemacht. Dabei ist die Schweiz, das Mutter-/Vaterland, im Herzen Europas lokalisiert.

Die wichtigsten Erkenntnisse

  • Das Narrativ wird im Vergleich wenig genutzt
  • Rechte Parteien benutzen das Narrativ am häufigsten
  • «Alpen», «Erholung», «Heimat» und «Berge» sind die beliebtesten Begrifflichkeiten dieses Narrativs

Die Studie hat herausgefunden, dass dieses Narrativ bei sämtlichen Akteur:innen im Vergleich mit den anderen Narrativen eine marginale Rolle einnimmt. Im Zeitverlauf haben die rechten Parteien eine bemerkenswerte Dominanz in diesem Narrativ, also das Narrativ viel häufiger benutzen als andere Parteien. Einzig die Grundsatzdokumente benutzen das Narrativ gleich häufig.

Die Grafik zeigt die Relative Bedeutung des Narratives pro Akteur:in.

Seit den späten 2000er Jahre konvergieren die Trends aber wieder. Die häufigsten Worte, die von den Akteur:innen zu diesem Narrativ gebraucht werden sind «Alpen», «Erholung», «Heimat» und «Berge» scheinen die beliebtesten Begrifflichkeiten zu sein.

Die Grafik zeigt die fünf bedeutendsten Schlagworte des Narratives pro Akteur:in.

Bei den rechten Parteien fällt zudem die Bedeutung des Begriffs «Schweizervolk» auf. Das Narrativ zeichnet sich durch seine homogene Verwendungsweise bei den Begrifflichkeiten und eine gewichtete Monopolisierung durch die rechten Parteien und Grundsatzdokumente aus.

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